EvangelischeEv. Kirche in Ennepetal, Gevelsberg, Haßlinghausen, und Schwelm

Die Welt ist ein Dorf

Liebe Leserin, lieber Leser,

Wo sind Sie aufgewachsen? Wie war die Umgebung Ihres Zuhauses, als Sie noch ein Kind waren? Eine Straße mit viel Verkehr? Oder ein ruhiger Platz? In der Innenstadt? Oder am Stadtrand?

 

Pfarrerin Anne Braun-Schmitt ist Krankenhausseelsorgerin im Evangelischen Kirchenkreis Schwelm

  

 

Ich bin ein Dorfkind. Dorfkinder stellen manche Fragen nicht. Zum Beispiel: „Warum ist das große Tier da auf der Wiese schwarz-weiß gefleckt, und nicht lila, wie im Fern­sehen?“ Sie sagen auch nicht: „Es interessiert eigentlich niemanden in unserer Straße, was gerade für ein Auto bei uns vorm Haus steht ….“ - Nachbarn auf dem Land sind wach­sam.

  

Hinter unserem Haus gab es einen Gemüsegarten: ein paar Reihen Kartoffeln, Buschbohnen, Himbeersträucher,  schwarze Johannisbeeren, Sonnenblu­men. Gekaufte Marmelade kam bei uns nicht auf den Tisch. In Opas Tomatenhäuschen wuchsen Zucchini und überwinterten die Topfpflanzen. Hinterm Gartenzaun begannen die Äcker von Bauer Staupe. Meist säte er Getreide. Im Herbst flitzten wir Kinder mit unseren Drachen über die Stoppelfelder. Nass, dreckig und müde kamen wir abends vom Spielen am Bach zurück.

   

Mitten im Dorf standen Kirche und Schule. Die Glocken hörte man vom Ruhrtal zu uns heraufklingen, besonders bei Westwind.

   

Nein, unser Dorf war keine Idylle. Es gab Neid, schlimme Erkrankungen, Verkehrsun­fälle mit jungen Leuten, jemand erschoss sich mit seinem Jagdgewehr oder „ging in die Ruhr“. Beim Schützenfest floss das Bier reichlich. Es wurde geredet übereinander. Aber das hieß auch: die Menschen waren einander nicht egal. Auf die Kinder wurde aufgepasst:  wir waren behütet, aber wir konnten auch nicht jeden Blödsinn machen.

   

In der Grundschule saß ich eine Zeit lang neben Karin, die spastisch gelähmt war. Wir haben zusammen lesen gelernt. Aber wir haben uns auch gut ohne Worte verstanden. Heute nennt man das Inklusion.

   

Ich bin damit aufgewachsen, dass ich jeden grüßen sollte, der mir entgegenkam. Und die Leute grüßten zurück! Das galt übrigens auch für die „Gastarbeiter“ aus Portugal, Griechenland oder anderen Ländern, die im Nachbarort bei Mannesmann Röhren bau­ten. Wenn sie ihre Familien nach Deutschland holten, gingen die Kinder mit uns zur Schule, schon in den Sechzigern. Ich kann mich erinnern, wie schwer sie es da hatten.

   

Als Jugendliche wurde es mir zu eng und zu langweilig. Ich musste nach dem Abi erst mal in die Großstadt. Aber geblieben ist mir ein großes Vertrauen: das Gefühl der Zu­gehörigkeit zu einem sozialen Ganzen, in dem es nicht egal ist, wie man sich verhält, die Gewissheit, dass Gottes Schöpfung uns Menschen versorgt, und frühe Erfahrun­gen, dass auch in einer engen Gemeinschaft Platz sein kann für viele Verschiedene.

   

Solche Gewissheit finde ich oft in der Bibel wieder. Zum Beispiel im Monatsspruch für den Januar 2015. Nach der Sintflut verspricht Gott den überlebenden Menschen:  „So lange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (Gen 8,22).“ Ich  höre: da passt einer auf, da  ist für alle gesorgt ...

   

„Eigentlich ist Schwelm ein Dorf!“ höre ich manchmal. Oder Gevelsberg, oder Ennepetal. Rüggeberg und Silschede sowieso. Die Welt ist ein Dorf! - im „Global Village“ sind wir heute rund um den Globus vernetzt und verbunden. Aber wo und wie wir und unsere Kinder und Kindeskinder aufwachsen können oder konnten, dafür kann man eigentlich nur dankbar sein, wenn es gut war. Und wir können dafür sorgen, dass unser Umgang mit Gottes Schöpfung und unser Umgang miteinander auch dem entspricht, was von Anbeginn an gut gemeint war. Wir können nicht jeden Blödsinn machen. Ob wir nun vom Land kommen oder nicht: Dorfkinder schaffen das. 

   

Anne Braun-Schmitt