EvangelischeEv. Kirche in Ennepetal, Gevelsberg, Haßlinghausen, und Schwelm

Strukturlose Barmherzigkeit

Ein Bettler saß im kalten Schnee, dem tat das alte Herz so weh. Sankt Martin der vorüber ritt gab ihm den halben Mantel mit.

Elena Kersten ist Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Schwelm

  

Am 11. November war der Gedenktag des Heiligen Martins. Zugegeben, ein katholischer Heiliger, nichtdestotrotz hat auch das Martinssingen in evangelischen Gebieten seine Tradition. Vielleicht liegt es daran, dass der 11. November auch als Tauftag Martin Luthers gilt oder vielleicht ist es einfach zu schön sowohl für jung und alt mit Laternen durch die Straßen zu ziehen, gemeinsam zu singen und mancherorts auch mit einer großen Tüte Süßigkeiten nach Hause zu kommen. Warum auch immer diese Tradition fast ökumenisch zu nennen ist, nahezu jedes Kind kennt die Legende, ob es nun einen konfessionellen Kindergarten besucht, aus einer christlichen Familie stammt oder eben auch nicht. Die Geschichten Sankt Martins sind einfach schön, schlicht und sprechen ganz selbstverständlich von gelebter und tätiger Nächstenliebe, von Taten der Barmherzigkeit.
  

Geschrieben steht: seid allen gut, denn was ihr dem Geringsten tut, das habt ihr mir, dem Herrn geschenkt! Wohl dem, der wie Sankt Martin denkt!
  

Bis hierhin also einfach ein schöner Brauch, den man fromm füllen kann oder eben auch nicht. Einfach eine nette, unkomplizierte, schöne Geschichte. Dachte ich jedenfalls lange bzw. so war es für mich, als ich selbst Kind war. Nun, als mein Sohn seinen ersten Laternenumzug im Kindergartenalter mitmachte, sah er das Ganze ein wenig kritischer. Warum hat Martin nicht den ganzen Mantel hergegeben? Warum nicht noch mehr Hilfe? Warum hat Martin ihn nicht mit nach Hause genommen? Warum ihm kein heißes Bad eingelassen? Warum keine Wärmflasche gemacht. Warum ihm kein kuscheliges Bett gegeben. Warum nichts zum Essen? Warum keine Arbeit? Martin war doch reich. Warum… und überhaupt, was soll der Bettler mit einem halben, einem kaputten Mantel?
  
Vieles war wohl auch der berühmten Warum-Phase von Kleinkindern geschuldet, aber eine gewisse Unzufriedenheit über diese so gar nicht nachhaltige und letztlich ungenügende Hilfe war echt. Und damit steht mein Sohn wahrlich nicht allein. Die Diskussionen über Nachhaltigkeit, Hilfe zur Selbsthilfe, über Ungenügendes sind nicht neu. Der Anspruch auch nicht. Das was an Hilfe gegeben werden kann, soll doch möglichst effizient, dauerhaft und perspektivreich gegeben werden. Mittel nicht verschwendet werden, keine Tropfen auf heiße Steine. Schon früh entstanden alle möglichen und unmöglichen Sozialsysteme mal in kirchlicher, mal in staatlicher, mal Hand in Hand. Viel Erfolgreiches, viel Gutes und Bewährtes. Vieles was dem Empfinden meines Sohnes entgegenkommt.
   
Da geht es nicht um kaputte, halbe Mäntel, sondern um eine langfristige Perspektive, damit der Bettler nicht Bettler bleiben muss. Ja, auch sehr schön, vielleicht nicht ganz zur Legendenbildung geeignet. Durchaus auch christlich, menschenfreundlich, human und so weiter.
   
Und doch, ich hänge an der Legende des halben, des kaputten Mantels. Es ist eine plötzliche, nicht sonderlich durchdachte Tat. Nicht nachhaltig, nicht effizient, ohne Perspektive. Aber eine Tat, der ganz persönlichen Nächstenliebe, ein plötzliches Erbarmen. Barmherzigkeit ohne Struktur und System. Liebe ohne Pflicht, Liebe aus der Liebe heraus.  
   
Wohl dem, der wie Sankt Martin denkt? Wohl dem, der das Denken Sankt Martins erfahren darf, sei er Bettler oder Heiliger.
   
Mit liebem Gruß,
Pfarrerin Elena Kersten