„Ich hatt einen Kameraden, Einen bessren findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite in gleichem Schritt und Tritt. Eine Kugel kam geflogen, Gilt's mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen, Als wär's ein Stück von mir. Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ew'gen Leben Mein guter Kamerad“
Als Kind, als Jugendliche fand ich dieses Lied furchtbar: alte Kamellen. Heute denke ich: das ist der Rap, der Sound, mit dem mein Vater und seine Brüder und davor deren Väter in die Weltkriege gezogen sind: voller Zuversicht und Leidenschaft, um dann als Kanonenfutter zu sterben. Zwei meiner Onkel wurden nur so alt, wie meine Kinder es heute sind. Frauen in meiner Familie wurden vergewaltigt. Das Bewußtsein, Kind von Flüchtlingen zu sein, bleibt mir.
Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. An den Folgen des Zweiten leidet noch immer eine ganze Generation. Wer heute Mitte 70 oder älter ist, hat noch Bilder oder Geräusche im Kopf, Gerüche, Erinnerungen, die belasten und nicht verschwinden: Traumata. Die damals jungen Männer konnten oder durften lange nicht darüber reden, was sie erlebt hatten. Aber das Schweigen hatte Folgen. Denn das erlebte Unheil wird vererbt: Wir reden heute nicht nur von „Kriegskindern“, sondern auch von „Kriegsenkeln“, die beschreiben, dass in ihren Familien eine dumpfe, schwer fassbare Trauerstimmung herrschte. Dass der Vater lieber allein war, selten lachte oder: viel trank. „… bis ins dritte und vierte Glied“, sagt die Bibel. Vielleicht war es ja auch so in der Familie des alten Mannes, der nicht sterben konnte, weil er zutiefst Schuld empfand, am Tod eines Menschen beteiligt gewesen zu sein.
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ sagt Christus und nimmt alle Schuld der Menschen mit ans Kreuz und von unseren Schultern. Und wir? Können uns daran nur immer erinnern, gegenseitig. Der alte Mann konnte endlich dieses Leben verlassen nach seinem „Beichtgespräch“ mit einem freundlichen, zugewandten Menschen. Sicher hat er darin etwas von Vergebung gespürt. Wir sind auf Versöhnung angewiesen – sonst können wir nicht leben und nicht sterben.
Und heute? Schon wieder gibt es viel zu viele junge Männer und auch Frauen, die in den Krieg ziehen und voller Leidenschaft und Überzeugung Gewalt und Tod aussäen. Wir sollten alles Menschenmögliche für den Frieden tun. Für diese Mahnung ist der Volkstrauertag gut. Keine alte Kamelle: seine Botschaft ist brandaktuell.
In einem Gebet der Vereinten Nationen heißt es: „Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnloser Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung. Gib uns den Mut und die Voraussicht, schon heute mit diesem Werk zu beginnen, damit unsere Kinder und Kindeskinder einst mit Stolz den Namen Mensch tragen.“
Eine gesegnete Woche.
Ihre Anne Braun-Schmitt,
Pfarrerin in Schwelm