Vor einiger Zeit habe ich von einem Elsterpaar erzählt, dass sich die Tanne vor meinem Fenster als Nistplatz ausgesucht hatte. Ihr emsiger Nestbau, der mich so gar nicht betraf, hat mich einen Moment aus der Alltagsmühle gerissen und mir die Leichtigkeit der Unwichtigkeit geschenkt. Wie so oft hat die Medaille natürlich zwei Seiten und auch dies haben mir die zwei Vögel gezeigt.
Eines Morgens versammelten sich auf den umliegenden Dächern an die zwanzig Krähen und beobachteten das Nest aufmerksam und bedrohlich. Dies setzte sich über mehrere Tage fort und auch der ganze kindliche und gerechte Zorn meines kleinen Sohnes und sein Bitten und Beten konnten dagegen nichts tun. Die Elstern verschwanden und mit ihnen die Krähen und für uns zurück blieb nur das leere Nest.
Dies scheint ein recht natürlicher Verlauf zu sein, die Elster selbst gehört auch nicht zu den friedlichsten Vögeln und vielleicht haben die Zwei auch woanders noch ein sichereres Heim gefunden. Doch dies alles hilft meinem Sohn nicht, er spürte die ganze Last des Nichts-tun-Könnens. Die Schwere der Machtlosigkeit. Solche Momente gibt es auch in meinem Leben, gibt es in jedem Leben, das liebt und lebt. Manchmal können wir nichts ändern für den Anderen, nichts besser machen, reparieren, heilen oder gar retten. Eine verhauene Klassenarbeit, eine Absage auf die fünfzigste Bewerbung, eine unerfüllte Liebe, eine unheilbare Erkrankung… Es gibt so viele große und kleine Leiden, die uns selbst ereilen oder unserem Nächsten widerfahren und wir können sie nicht ändern und nicht abwenden. Wir sind machtlos im Tun.
So erging es auch den Jüngern Jesu als sie ihn nach Golgatha gehen lassen mussten, als sie nichts von dem Schrecklichen was ihm angetan wurde verhindern konnten. So erging es auch Simon, der eigentlich noch nicht mal beteiligt war und doch gezwungen wurde das Kreuz Jesu, sein Leid mitzutragen, zu ertragen ohne es lindern zu können. Das Leid ertragen, die Hilflosigkeit aushalten und den Anderen loslassen, dies alles ist die Schwere der Machtlosigkeit, die Kehrseite der Leichtigkeit der Unwichtigkeit. Und siehe ich mache alles neu, verheißt uns die Offenbarung des Johannes und so schön die Verse auch sind und das Versprechen das Gott dereinst alle Tränen abwischen wird, alles Leid ein Ende haben wird, wenn wir drin stecken, wenn wir gezwungen werden oder uns selber zwingen das Kreuz eines Anderen zu tragen ist der Wunsch schmerzhaft groß es einfach jetzt und sofort selber neu zu machen. Indes wir können es nicht.
Ich schaue oft auf den Baum mit dem das leere Nest, Krähen sind in unserer Familie auch immer noch doof, ob der nächste Frühling alles neu macht weiß ich nicht und kann ich auch nicht versprechen. Machtlosigkeit bleibt und wird immer wiederkommen mit all ihrer Schwere. Doch immer mal wieder fühle ich auch die Leichtigkeit der Unwichtigkeit und weiß ein Anderer hält diese Welt in seiner Hand, auch zwei kleine Vögel, und ich muss es nicht tun. Ich gehe vorüber.
Mit liebem Gruß, Pfarrerin Elena Kersten