Ein kleiner Schrecken durchfährt mich, denn es ist klar: Im nächsten Moment werde ich zu einem Einsatz in der Notfallseelsorge gerufen. Irgendwo im Südkreis ist etwas Schlimmes passiert, und die betroffenen Menschen brauchen unseren Beistand. Auch wenn man schon seit Jahren in der Notfallseelsorge tätig ist, so ist doch jeder Einsatz eine neue Herausforderung. Notfallseelsorge wird nie zur Routine.
Der Dienst der Notfallseelsorge wird von speziell dazu ausgebildeten Ehrenamtlichen sowie von Pfarrerinnen und Pfarrern im Kirchenkreis Schwelm durch Übernahme von Bereitschaftszeiten gewährleistet. Als Synodalbeauftragter des Kirchenkreises bin ich dafür verantwortlich, dass das klappt; und regelmäßig trage ich mich auch selbst in den Plan ein.
Wenn die Notfallseelsorge von den Einsatzkräften angefordert wird, wird auch dies "Alarmierung" genannt. Das klingt nach knapper Zeit, nach Hetze und Stress. Die Disponenten in der Kreisleitstelle fragen immer: "Wann können Sie am Einsatzort sein?", um die Einsatzkräfte vor Ort entsprechend zu informieren. Ich gebe zu: Ich schlage bei der geschätzten Fahrzeit immer ein paar Minuten drauf. Das ist in meinen Augen legitim, denn unser Einsatz ist wichtig, aber nicht lebenswichtig. "Nimm dir ein paar Minuten Zeit, dich zu sammeln, bevor du ins Auto steigst; und vor allem: Sprich ein kurzes, stilles Gebet!" - so habe ich es in meiner eigenen Ausbildung zum Notfallseelsorger gelernt. Und diesen Rat gebe ich an alle weiter, die sich in der Notfallseelsorge engagieren.
Aktuell leben wir Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger in einem schwer erträglichen Zwiespalt. Wir wollen helfen und trösten, das ist unser Auftrag und unsere Berufung. Zugleich aber könnten wir zur Gefahr für andere werden, falls wir das Coronavirus unwissentlich in uns tragen. Manche in der Notfallseelsorge Tätigen gehören zu einer Risikogruppe und müssen deshalb vorerst pausieren. Wie es mit der Notfallseelsorge weitergehen wird, darüber herrscht im Moment große Verunsicherung. An dieser Stelle ist ein Dank fällig an alle, die sich weiterhin in den Bereitschaftsplan eintragen.
"Rufe mich an in der Not", heißt es im 50. Psalm. In einem kirchlichen Jugendkreis, durch den ich stark geprägt wurde, stellt einmal jemand die Frage: "Wusstet Ihr schon, dass Gott eine Notrufnummer hat?" Es folgte allgemeines Kopfschütteln. "Sie lautet 5015." - Bei uns herrschte immer noch Unverständnis. "Naja, genaugenommen geht es um Psalm 50,15: Rufe mich an in der Not!" Nein, natürlich hat Gott kein Telefon. Aber er braucht auch gar keins, er hört uns auch so. Er ist immer nur ein Gebet weit entfernt.
"Rufe mich an in der Not" - für Feuerwehrleute, Rettungskräfte, Notärztinnen und -ärzte, Polizistinnen und Polizisten ist es Alltag, in der Not angerufen zu werden. Für uns Notfallseelsorgende ist es nicht unbedingt Alltag, aber es kommt regelmäßig vor.
Aber wir gehören auch zu den Anrufern. Gerade jetzt. Viele sind in Sorge, um sich selbst und um Angehörige und Freunde. Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz, um ihre Existenz. "Ach Gott, mach ein Ende mit dieser Not", so wollen wir wohl beten. Ob Gott unsere Bitte erfüllen wird? - Wenn ich über den Sinn des Betens nachdenke, fällt mit immer wieder der Titel eines Buches über die indische Ärztin Mary Verghese ein: "Um Füße bat ich, und er gab mir Flügel". Sie war durch einen Autounfall querschnittsgelähmt und wurde trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb? - zu einer Pionierin für physikalische Medizin und Rehabilitation. Und vielleicht dürfen wir das in diesen schweren Zeiten auch erleben: dass wir über uns hinauswachsen und Flügel bekommen. Es gibt viele, für die wir jetzt beten sollten, auf dass Gott ihnen Flügel schenkt:
- die Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind;
- alle, die an einem Impfstoff forschen;
- die Mitarbeitenden in den Supermärkten;
- Politikerinnen und Politiker, die schwere Entscheidungen zu treffen haben;
- alle Freiwilligen, die sich selbstlos zur Hilfe etwa beim Einkaufen zur Verfügung stellen.
Also bitte nicht vergessen: fünfzig-fünfzehn - die Nummer kann man sich doch gut merken, oder?
Gott befohlen - und bleiben Sie gesund!
Ihr Thomas Bracht