Er kennt nicht seinen Namen, weiß nicht, ob er eine Familie hat oder welchen Beruf. Er irrt durch die fremde Stadt. Schließlich bringt man ihn in eine Klinik. Er wird untersucht. Keine Drogen, kein Alkohol, nicht Auffälliges. Aber er hat sein Gedächtnis, seine Erinnerung verloren.
Ein wahrer Fall. Er wurde vor einiger Zeit im Fernsehen berichtet. Kaum vorstellbar, was es bedeutet, sich nicht erinnern zu können. Ohne Erinnerung gibt es keine Identität und auch keine Beziehung zu anderen. Es fehlt die Antwort auf die Frage, was ich mit dem Menschen, der mir gegenübersteht, erlebt habe, und was mich mit ihm verbindet. Ohne Erinnerung bin ich nicht Ich.
Erinnerung gehört auch zum Glauben. Die meisten unserer christlichen Feste haben mit Erinnerung zu tun: Weihnachten erinnern wir die Geburt Jesu, Karfreitag sein Kreuzigung, Ostern die Auferstehung und Pfingsten, dass Gott uns durch den Heiligen Geist seine Gegenwart zusagt. Wenn wir Abendmahl feiern, erinnern wir uns daran, wie Jesus vor seiner Gefangennahme mit seinen Jüngern das Passamahl feierte. Und das Passafest selbst ist auch ein Erinnerungsfest an das Grunddatum jüdischer Geschichte: Jüdische Menschen denken an die Befreiungstat Gottes, der die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten führt.
Glaube gründet auf Erinnerung. Die Bibel gebraucht das Wort „gedenken“. „Gott, wir gedenken deiner Güte in deinem Tempel“, heißt es in Psalm 48. Aus der Erinnerung an Gottes Güte, die er uns erwiesen hat, schöpfen wir die Zuversicht, dass er auch in Zukunft uns seine Nähe spüren lässt.
Und umgekehrt gedenkt Gott unser. Am Ende der Sintflutgeschichte setzt Gott seinen Bogen an den Himmel, den Regenbogen und sagt zu sich selbst: „Der Bogen wird in den Wolken stehen, und wenn ich ihn sehe, wird er mich an den ewigen Bund erinnern, den ich mit allen lebenden Wesen auf der Erde geschlossen habe.“ Gott verspricht uns seine Treue.
Erinnern ermöglicht Versöhnung, und ist die Voraussetzung für Versöhnung. Am 8. Mai 1985 hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker in seiner Rede zum 40-jährigen Kriegsende gesagt: „Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergisst, verliert den Glauben.“
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche.
Ihr
Hans Schmitt