Durch die Medienlandschaft schwirrt diese These des Ernährungspsychologen Johann Klotter: Die Ursache für den „völlig verkrampften“ Umgang der Deutschen mit dem Essen liegt im Protestantismus.
Die Begründung liefert er mit: Die Anhänger des Schlankheitswahns verträten im Grunde auch nur die moralisch-religiöse Lehre von der Mäßigung (so wie sie der Protestantismus vertritt). Und da die Religionsgemeinschaften nicht mehr so „en vogue“ sind, ergreifen die Menschen die Möglichkeit, ihren Glauben im Bereich der Ernährung auszuleben. Und da gibt es jede Menge wissenschaftlicher Begründungen, die eben – anscheinend – nichts mit irgendeinem Glauben zu tun haben.
Die These scheint sich gut zu verkaufen. Dass er übertreibt, damit er sich gut verkaufen kann, ist natürlich.
Seine Beobachtung ist es aber wert, dass man über sie nachdenkt. Haben Sie nicht auch schon Begegnungen mit radikalisierten Essern gehabt? Vegetarier, die aus ihrer Überzeugung eine missionarische Aktion werden lassen? Veganer, die fast schon Kreuzzüge starten? Und haben Sie nicht auch schon erlebt, dass nicht wenige der Essens-Überzeugten in jedem Gespräch auf dieses Thema kommen?
Andere Menschen haben in ähnlicher Weise „ihr“ Thema, das in allen Gesprächen auftaucht. Ob es der eine einzigartige Fußballverein ist oder die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse (wir feiern gerade das fünfzigjährige Jubiläum der 68er) - Menschen missionieren mit ihrem einen Thema.
Mir wird da etwas eng: Wie kann ich die Vielfalt des Lebens und den Reichtum an menschlicher Individualität stets nur auf ein Thema reduzieren?
Und wie tragfähig ist denn ein solches Thema: Die Ernährung, die Gesundheit, der Sport, die Politik, das Besitzen, die Mode, der Sex? Wird nicht damit ein Thema zum „Götzen“ gemacht?
Weil Gott nicht mehr die Grundlage des Lebens ist, muss ein Ersatz geschaffen werden. Weil ein Leben in Banalität nicht auszuhalten ist, wird ein Ersatz geschaffen.
Wenn es im Leben ein zu großes Vakuum gibt, dann muss es der Mensch füllen, sonst hält er es nicht aus, dann hält er sich selber nicht aus.
So kann es dazu kommen, dass ein Teilbereich menschlichen Lebens, auch wenn er wichtig sein mag, zum alles beherrschenden Thema wird.
Ein gutes Wochenende!
Ihr Pfarrer Helmut Kirsch, Gevelsberg