Dann mahnt Jesus seine Zuhörer, den Balken aus dem eigenen Auge zu entfernen, bevor sie den Anderen wegen seines Splitters im Auge belehren oder zurechtweisen.
An diesen Satz fühlte ich mich im Wahlkampf erinnert. Da wurden in einer Talkshow alle Kanzlerkandidaten und die –kandidatin nach einem eigenen Fehler in der Politik befragt. Niemand fand ein bei sich. (Da müsste selbst der Papst vor Neid erblassen.)
Hinter der Mahnung Jesu steht der Gedanke, dass wir erst dann einen guten Blick haben, wenn wir den Balken aus unserem Auge entfernen.
Da habe ich so meine Bedenken! Ich befürchte, wenn wir immer ganz klar sehen würden, sachlich, nüchtern, objektiv, dass dann auch unsere Beurteilungen oder Urteile sehr klar und scharf wären, objektiv, nur an Recht und Gesetz orientiert: Gnadenlos, ohne Rücksicht!
Um das zu erleben brauchen wir keine Politik und keine Talkshows, da würden unsere „Stammtischgespräche“ reichen, bei denen wir zu Gericht sitzen.
Deshalb würde ich zwar mit Jesus sagen: „Entferne den Balken aus deinem Auge“, aber dann hinzufügen: „Behalte dir wenigstens einen Splitter im Auge.“
Einen Splitter der sticht, der schmerzt, bei dem wir uns die Augen reiben, weil wir nicht richtig sehen. So ein Splitter könnte uns helfen, deutlich besser zu sehen.
Wir brauchen für ein besseres Sehen die Einsicht, niemals ganz klar zu sehen und manches Mal einen getrübten Blick zu haben oder nur Ausschnitte aber nicht das Ganze zu sehen, nur zu sehen, was wir sehen wollen und was in unser Bild vom Anderen passt.
Ich wünsche uns wirklich manchmal, dass der Splitter schmerz und weh tut, damit wir jemanden brauchen, der uns heilt oder wenigstens nachsichtig ist mit unserer blinden Flecken.
Die Erfahrung mit dem Splitter im eigenen Auge könnte uns einen göttlichen Blick auf den Anderen ermöglichen: einen gnädigeren Blick, nicht kurzsichtig sondern nachsichtig, nicht messerscharf sondern barmherzig. Das täte nicht nur den Anderen gut, sondern auch uns selbst.
Ich wünsche uns ein gutes Gespür für die eigenen Sehschwächen.