Das frage ich mich auch, wenn ich das Evangelium (Markus 14,1-9) für den heutigen Sonntag lese. Dort entsetzen sich die Jünger über eine Frau, die Jesus mit teurem Öl salbt. Dieses hätte man ihrer Meinung nach lieber verkaufen sollen, um das Geld den Armen zu geben. Gerne würde ich die Jünger fragen: Wer sind denn für euch die Armen? Meint ihr, dass einzig und allein diejenigen arm sind, denen es an finanziellen Mitteln mangelt? Bedürfen denn wirklich nur sie unserer Zuwendung?
Gerne würde ich auch Jesus fragen: Wie fühlt es sich für dich an, dass deine engsten Wegbegleiter, denen du mehr als einmal erzählt hast, dass du bald auf grausame Weise sterben wirst, dein Leid, dein Arm sein, nicht anerkennen?
Die Frage, die dieser Text für mich aufwirft ist: Sollte das Leid des Einen weniger wichtig sein als das Leid der Anderen? Oder anders gefragt: Ist es legitim ein Ranking des „Arm seins“ zu erstellen? Vergleichen wir da nicht Äpfeln mit Birnen?
Ich muss gestehen, dass ich mich gerade in der aktuellen Situation manchmal selbst dabei ertappe. Wenn ich abends in den Nachrichten indische Tagelöhner sehe, die nicht wissen, wovon sie zukünftig leben sollen und es kein System gibt, dass sie auffängt, denke ich mir schon „Mensch, uns hier in Deutschland geht es immer noch vergleichsweise gut.“ Und trotzdem fühle ich mit dem Eisdielenbesitzer, mit der einsamen und ängstlichen Person im Altersheim und auch mit jemandem, dem es ohne klar benennbaren Grund gerade nicht gut geht mit. Das Arm sein der Einen schmälert nicht das Arm sein der Anderen. Lassen Sie uns da nicht in die Haltung der Jünger verfallen.
Wichtig ist in meinen Augen die Würdigung des jeweiligen Arms eins oder besser gesagt desjenigen, der das Gefühl hat arm zu sein.
Jesus wird durch die Salbung von der Frau gewürdigt und er würdigt auch sie, wenn er sie und ihr Verhalten vor den Jüngern verteidigt.
Gerade in der aktuellen Situation, in der jede und jeder ganz individuell und unterschiedlich ausgeprägt unter Isolation, Unfreiheit und Ungewissheit leidet, kommt es in meinen Augen darauf an, den Menschen, der mir mit seinem Gefühl von Armut begegnet, ernst zu nehmen.
Lassen Sie uns deshalb billige Trostversuche à la „Stell dich nicht so an! Anderen geht es doch noch viel schlechter“ aus unserem Wortschatz streichen. Auf Würdigung und Ernstnehmen von Leid und Bedürftigkeit, darauf kommt es an!
Ihre Pfarrerin Annika Wilinski