Denken wir einmal anders: Jedes Alter hat eigene Aufgaben und Chancen. Ich möchte den rein defizitären Status der Alters-Demenz hinterfragen. Ich dekliniere ihn durch alle drei Zeitstufen - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - um zu eigenen Defiziten zu kommen.
Leben alte Menschen nur noch in der Vergangenheit? Sie erleben Verstorbene, so als lebten sie noch, als sprächen zu ihnen. Ist es nicht eine gängige Sehnsucht nahezu aller Menschen, ihre Verstorbenen wiedersehen und mit der "ganzen" Familie vom Enkel bis zu den Großeltern zugleich im Paradies sind? Das sind fünf Generationen. "In Echt-Zeit" leben aber nur drei, wenn es hoch kommt vier Generationen gleichzeitig. Ist nun unsere Lebenswirklichkeit oder die Welt der Dementen nun defizitär?
Zugleich leben Demente voll und ganz im Hier und Jetzt. Sie werden unruhig, wenn wir nur für fünf Minuten den Raum verlassen. Das überfordert uns. Wir haben noch andere Aufgaben. Wir können nicht von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all unserer Kraft für sie da sein. Im Handyzeitalter ist das noch schlimmer. Wir sind nie ganz da, immer mit einem Ohr anderswo. Mit unserer Rufbereitschaft äffen wir die Allgegenwart Gottes nach und wundern uns bei dieser Konkurrenz, wenn wir am Multi-Tasking scheitern. Ist nicht der Demente, der ganz im Hier und Jetzt lebt, präsenter als wir?
Wenn es Abend wurde wollte unsere alt Dame nach Hause, obwohl sie in Ihrem ureigenen Wohnzimmer in ihrem Lieblingssessel saß. Damit war schwer umzugehen. Korrigieren soll man nicht. Ihr Recht geben und einfach sitzenbleiben ging aber auch nicht. Plan C wäre gewesen, ihr Schuhe und Mantel anzuziehen, sie ins Auto zu setzen und einmal um den Block zu fahren, damit sie zuhause ankommt. Aber das wäre eine Mischung aus "Good bye Lenin" und Bölls "... nicht nur zur Weihnachtszeit" gewesen.
Mal dachten wir, sie lebt in der Vergangenheit, sie meinte, sie sei nur zu Besuch bei uns, lebe bei ihren Eltern. Dann aber erinnerte ich mich an den Bibelvers "Wir haben keine bleibende Statt, sondern eine Zukünftige suchen wir." War sie uns sogar gedanklich voraus?
Ihre Sicht am äußeren Horizont des Lebens wäre dann weiter als unsere gewesen. Wir brauchen unsere Sichtbegrenzung, unseren Horizont, um nicht vor lauter Eindrücken verrückt zu werden. Wir haben ganz in dieser Welt zu funktionieren. Ihre Aufgabe war es, sich am Lebensende noch ein Ziel zu suchen, das unseren Horizont über-schreitet. "Trans-zendiert" heißt das im Uni-Dialekt. Jedes Alter hat eigene Aufgaben und Wahrnehmungen. Sie konnte uns gedanklich nicht mehr folgen, und wir ihr bis dahin noch nicht.
Pastor Dirk Küsgen